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Los geht's

Jazzahead

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Jazz – spielen da nicht alle gegeneinander an? Ist das nicht Lärm und Chaos in Endlosschleife, ertragbar offenbar allein für citröenfahrende Rotweintrinker mit Vollbart?

Falsch!

Jazz ist die Befreiung der Musik von der Langeweile!
Jazz ist der Versuch, mit dem Mittel der Improvisation der Musik ihre Vorhersehbarkeit zu nehmen!
Jazz ist: Überraschung!

Zur Jazzmesse „Jazzahead“ in Bremen verrät NWZonline allen Jazzanfängern, wie das geht: Jazz. NWZ-Reporter Karsten Krogmann, studierter Musikwissenschaftler und aktiver Heavy-Metal-Bassist, stellt euch fünf (ältere) Jazz-Alben für Einsteiger vor – und fünf (neue) Jazz-Alben für Drinbleiber.

Viel Spaß beim Reinhören!


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"Es kommt nicht darauf, welche Noten Du spielst, sondern welche Noten Du weglässt", soll Miles Davis einmal gesagt haben. "Kind of Blue" ist ein Meisterwerk aus nicht gespielten Noten: so luftig, leicht, leise ist kein anderes Jazzalbum.

Jahrelang hatten Jazzmusiker grollende Tonlawinen von Akkordgebirgen heruntegeschubst, dann rief der Trompeter Davis "Stopp!" In einem Tonstudio in New York drückte er seinen Musikern nur noch einfache Tonleitern als Vorgabe in die Hand ("modaler Jazz" sollte das später in der Musikwissenschaft heißen). Die Musiker sollten sich von jetzt an allein um das kümmern, was in der Musik wirklich wichtig ist: um Melodien.

"Kind of Blue" wurde das erfolgreichste Album der Jazzgeschichte - nicht weil es das genialste ist, sondern weil es das schönste ist.

Zu genießen am besten mit geschlossenen Augen und einem guten Getränk in der Hand.
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Anspieltipp: "All Blues"
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Anfangs wollte keiner mit ihm spielen, denn Ornette Coleman spielte... falsch. So dachten zumindest die anderen Jazzmusiker über den Mann aus ärmlichen Verhältnissen, der sich das Saxofonspielen selbst beigebracht hatte.

Aber Coleman spielte nicht falsch, er spielte nur anders: Er blies einfach nur die Töne, die aus ihm herauswollten - die ihm sein Herz vorschrieb, sein Bauch, sein Innerstes. Er konnte ja nichts dafür, dass diese Töne nicht zu den Regeln der Harmonielehre passten.

Zum Glück fand er bald Musiker, die nicht länger den Vorschriften der Musikprofessoren folgten, sondern seinen kraftstrotzenden Melodien. So entstanden das Album "A Shape of Jazz to Come" und der Eröffnungstitel "Lonely Woman", die gleichsam zauberhafteste, zärtlichste und zerstörerischte Ballade des Jazz. Es war die Erfindung des „Free  Jazz“, und so hieß dann auch bald Colemans berühmtestes Album (1961)…

Zu genießen: mit großer Vorsicht, anfangs lieber nur in homöopathischen Dosen. Die Nebenwirkung könnte Hirnflimmern sein.
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Anspieltipp: "Lonely Woman"
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"A Love Supreme" ist nicht einfach Musik - es ist ein Gebet. Mehr noch: ein Hochamt. John Coltrane, der zuvor bei Miles Davis‘ "Kind of Blue" mitspielte, spricht nun mit dem Saxofon zu seinem Gott: hymnisch, hypnotisch, voller Hingabe.

Dafür nutzt er die neu geschaffenen Freiheiten im Jazz, keine starren Harmoniewechsel oder Taktfolgen sollen ihn bei seiner Lobpreisung zur Mäßigung zwingen. Ganz so allein wie Ornette Coleman lässt er den Hörer dann aber doch nicht zwischen all den Noten: Mal ist da eine Bassfigur in Dauerschleife, die den Messgänger durch diese Kirche aus Sound leitet, mal ist es der pochende Herzschlag des Schlagzeugs, mal sind es funkelnde Akkordglasperlen aus dem Klavier. Über all dem aber leuchten Coltranes Endlosmelodien: Ekstase, Emotion, Erhabenheit.

„Kind of Blue“ mag das schönste Album der Jazzgeschichte sein – „A Love Supreme“ ist zweifellos das ergreifendste.

Zu genießen: stehend mit andächtigem Blick.
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Anspieltipp: "A Love Supreme, Pt. 1 - Acknowledgement"
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Jazz ist: zuhören, was die anderen machen. Abgucken, ausprobieren, weiterentwickeln.

Natürlich war den Jazzstars der 50er und 60er Jahre nicht entgangen, was in der Rock- und Popmusik passierte. Heraus kamen brodelnde Jazzrockalben wie "Bitches Brew" (Miles Davis, 1970) oder "The Inner Mounting Flame" (Mahavishnu Orchestra, 1971), die immer kurz vor der Implosion zu stehen schienen und auf ungeübte Hörer mitunter beängstigend krawallig wirken.

Anders machte es Herbie Hancock, einst Pianist bei Miles Davis: Er klaute sich vom Pop (genauer: vom Funk) die Sortiertheit, die Aufgeräumtheit, die Einfachheit. Ein pupsender Synthiebass, der sich in stumpfer Monotonie in die Beine bohrt, darüber endlos Platz zum Improvisieren. Und Hancock experimentiert nun nicht länger allein mit Tönen, sondern auch mit Sounds und Technik. Es quietscht, pfeift und zwitschert in diesem Weltraumabenteuer, dass es eine Pracht ist. Sogar auf Flaschen wird geflötet.

Zu genießen: natürlich tanzend!
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Anspieltipp: "Chameleon"
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Zum Jazz gehört immer auch die Bigband, also sozusagen der große Bahnhof: pompös, eindrucksvoll, aber nach landläufiger Meinung irgendwie auch trötig und ein bisschen langweilig.

Gil Evans, der viele Arrangements für Miles Davis schrieb (hatte ich eigentlich schon gesagt, dass im Jazz jeder irgendwie jeden kennt, und Miles Davis sowieso?), zeigt, dass es auch anders geht: Er koloriert die Musik von Jimi Hendrix, schenkt ihr so (noch) mehr Breite, mehr Wucht, mehr Licht.

Trötig und langweilig ist hier nichts: Wie immer bei Evans sind es Bassklarinetten, Flöten, Waldhörner und gestopfte Trompeten, die die Musikanlage auf ungewohnte Weise zum Leuchten bringen. Ganz nebenbei beweist das Gil Evans Orchestra, dass Jimi Hendrix, dieser begnadete Rockgitarrist, der sein Instrument mit Zähnen und Werkzeugen quälte und es sogar anzündete, nicht nur ein Zerstörer war, sondern vor allem ein großer Komponist.

Zu genießen: auf den Knien mit der Luftgitarre im Arm. Wahlweise auch mit Luftsaxofon, Luftwaldhorn,  Luftbassklarinette.
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Anspieltipp: "Angel"
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Als zwei Tage vor seinem Tod Anfang 2016 das letzte Album von David Bowie erschien, "Blackstar", war sich die Kritik (völlig zu Recht) schnell einig: Das Album, prophetisch und voller ungehörter Sounds, ist ein Meisterwerk. Völlig zu Recht kletterte die Platzte auf Platz 1 der Charts.

Ein wenig unter ging dabei, dass es sich bei "Blackstar" streng genommen gar nicht um ein Bowie-Album handelte. Die Sounds, dieses nervöse Pochen und Pulsieren unter den krankheitszitternden Bowie-Zeilen, stammten von einem kalifornischen Jazzsaxofonisten und seiner Band, die Bowie in einem New Yorker Club entdeckt hatte: Donny McCaslin.

Dessen Soloalbum "Beyond Now", Bowie gewidmet, rast nun ungebremst weiter auf die Grenzen von Pop, Jazz und Rock zu: Elektrosounds wie aus der Besserungsanstalt entflohen, ein hyperaktiver Bass kurz vor dem Kollaps, Hilferufe aus dem Saxofon. Höhepunkt: das schaurig-sphärische "Al Small Plot of Land", ein Bowie-Cover.

Schon jetzt das aufregendste Jazzalbum des Jahres.
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Anspieltipp: "A Small Plot of Land"
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Halt, stopp, alle noch mal zurück auf "Los"! Denn möglicherweise ist auch das hier das aufregendste Jazzalbum des Jahres: Cuong Vu, geboren in Vietnam, aufgewachsen in Seattle/USA, trifft mit seinem Trio auf US-Gitarrist Pat Metheny (der einst übrigens mit Ornette Coleman zusammenspielte...). Die Folge ist eine chemische Reaktion, die umgehend hochgeht und nur eine  Richtung kennt: vorwärts, vorwärts, vorwärts!

Bass und Schlagzeug zerren den Hörer durch uneindeutige Stücke, die keine Tonart mehr zu kennen scheinen und keinen Takt, nur noch Puls und Power. Über all dem schwirrt Cuong Vus wattiertes Flügelhorn, angefeuert durch Pat Methenys zappeligen Gitarrensythesizer. Aufgekratzter spielte Metheny seit Jahren nicht mehr, womöglich seit "Song X", seinem Free-Jazz-Projekt mit Ornette Coleman nicht mehr.

Ist das hier ebenfalls Free Jazz? Mag sein, aber leichtfüßigiger und zugänglicher kam er wohl noch nie daher.

Das spannendste Jazzalbum des Jahres, mindestens.
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Anspieltipp: "Let's GetBack"
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Da treffen sich zwei Freunde, beides Pianisten, eines Nachts in einer Berliner Altbauwohnung und machen... Musik.

Draußen schläft die Stadt, rundum ruhen die Nachbarn, drinnen tasten sich Ólafur Arnalds und Nils Frahm sozusagen auf Zehenspitzen an den passenden Soundtrack heran. Ein paar Zeitlupenakkorde des Isländers aus dem Klavier, eine kleine Schlummermelodie des Deutschen am Flügel, Musik entsteht: schwebend, schwimmend, sphärisch.

Die Improvisationen tragen als Titel die Uhrzeit der Aufnahme, "20:17", "23:17", "03:06", nur langsam nehmen sie an Wucht zu: zunächst ein schiebender Bass aus dem Harmonium, dann das Tremolieren der alten Analogsythesizer. Ganze Noten,  gefühlt minutenschwer, die den Zuhörer einwickeln wie in Seidenpapier.

Vielleicht nicht das aufregendste Jazzalbum des Jahres, aber das zarteste.
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Anspieltipp: "An Evening with Ólafur Arnalds and Nils Frahm" (Film)
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Wo wir schon bei den Superlativen sind: Das Esbjörn Svensson Trio war sicherlich die interessanteste Jazzband der Neuzeit. In klassischer Besetzung - Piano, Kontrabass, Schlagzeug - loteten die Schweden die Grenzen der Musik aus, indem Berglund und Öström Bass und Schlagzeug elektronisch verfremdeten oder Svensson wie ein Gitarrist in die Saiten seines Flügel griff. Heraus kamen Klanglandschaften, die mal lyrisch und zart waren, mal an Soundtüftler aus der Rockszene erinnerten, bei "Seven Days of Falling" etwa an die britische Band Radiohead.

Dann starb Svennson 2008 bei einem Tauchunfall.

Wie könnte man ihn ersetzen? "Man" kann es nicht, aber vielleicht kann es ein komplettes Sinfonieorchester: Auf "E.S.T. Symphony" füllt das Royal Stockholm Philharmonic Orchestra die Lücke, die Svensson hinterließ. Heraus kommt eine Hommage an den verstorbenen Pianisten: wuchtig, warmherzig, manchmal wahnsinnig. Und doch bleibt es ein gleichberechtigtes Trio, das hier musiziert: Berglunds Bass, Öströms Schlagzeug, das große Orchester.

Nee, ganz klar: Das hier ist großartigste Jazzalbum des Jahres.
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Anspieltipp: "Dodge the Dodo"
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Und jetzt alle zusammen.

Wie würde es wohl klingen, wenn wir die ganze Jazzgeschichte in einen Mixer werfen würden?
Wenn wir Miles Davis' modalen Jazz, John Coltranes hymnisches Werben, Ornette Colemans Freiheitsdrang, ja auch Funk und Bigband, dazu den Space-Jazz von Sun Ra und die Ekstase von Pharoah Sanders, wenn wir all dies gleichzeitig abspulen könnten? Gespielt von 32 Musikern und einem 20-köpfige Chor, allesamt ausgebildet auf höchstem Jazzniveau und aufgewachsen mit Pop und Soul und HipHop? Aufgenommen heute, mit modernster Technik und nach aktuellsten Ansprüchen?

Antwort: Dann hätten wir Kamasi Washington und "The Epic", gute drei Stunden Jazz: gewaltig, gefährlich, galaktisch. Mehr Fülle war nie im Jazz, mehr Energie, mehr Wissen. Mehr Aufmerksamkeit übrigens auch nicht, jedenfalls nicht in diesem Jahrhundert: Alle Feuilletons schwärmten, sogar die meisten Rock- und Popmagazine.

Deshalb jetzt aber wirklich: das beste, wichtigste, größte Jazzalbum aller Zeiten, mindestens aber seit der Jahrhundertwende.
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Anspieltipp: "Change of the Guard"
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