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Soundcheck im Nordwesten

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Wissen wohin

Liebe. Drogen. Musik. Die Oldenburgerin Michelle Ailjets hat weit mehr erlebt als andere in ihrem Alter. Ihre Erfahrungen verarbeitet die 18-Jährige in ihren Songs. Gefühlvolle, nachdenkliche, aber auch kritische Folk-Pop-Stücke, die vor allem eines sollen: Andere stark machen.

Es gibt gute und es gibt schlechte Tage. Heute ist ein guter Tag. Michelle Ailjets steht auf dem Oldenburger Utkiek, einer 28 Meter hohen Aussichtsfläche im Stadtteil Osternburg. Morgens kann man in der begrünten Senke Rehe beobachten. Abends drehen Jogger auf der ehemaligen Deponie ihre Runden. Ein Ort der Stille. Ein Ort, an dem Michelle abschaltet, den Kopf frei bekommt. Sie setzt sich im Schneidersitz in den Sand, hebt die Gitarre in den Schoß, lässt den Blick über die Stadt schweifen und streicht sanft über die Saiten.

Schon als Kind wandert sie auf den Hügel. Mit zehn Jahren fängt sie mit der Musik an. Singt sie anfangs noch mit kindlicher Begeisterung den Text ihrer Saftpackung ab, reift ihr Stil über die Jahre in Richtung deutscher Folk-Pop. Die heute 18-Jährige beginnt, Stücke selbst zu schreiben. In drei Minuten komprimierte Lebenserfahrungen. Gesellschaftskritisch und persönlich. So persönlich, dass die Singer/Songwriterin an manchen Tagen manche Stücke nicht spielen kann. Doch heute ist ein guter Tag.



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Fünf Minuten bis maximal eine halbe Stunde – mehr braucht
Michelle nicht für einen Song. Ihre Kreativphasen hat sie meistens nachts. Und meistens ist sie dann traurig und alleine. Dann setzt sie sich hin, improvisiert und nimmt alles mit dem Handy auf. Schlagwörter werden zu Sätzen. Töne zu Akkorden. Fertig. Der Feinschliff kommt später. Michelle braucht nicht mehr als ein Gefühl, um Musik zu machen. „Gefühle entstehen aus Erlebtem“, sagt sie. Und erlebt hat Michelle weit mehr als viele andere in ihrem Alter.





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Heute, hier oben auf dem Utkiek, weiß Michelle, wohin sie will. Sie erzählt von ihrer Webseite, an der sie gerade bastelt, und von ihren Marketingplänen. Wie sie sich von anderen deutschen Singer/Songwritern wie Philipp Poisel oder Namika abheben möchte. Ein Künstler, eine Gitarre, eine Bühne – das reicht Michelle nicht. Wenn sie auftritt, möchte sie eine Traumwelt schaffen, möchte sie den Zuhörer entführen mit ihrer Musik, aber auch mit ihrem Bühnenoutfit. Facepainting, lange Gewänder – sich auf der Bühne ausleben, weil es im Alltag nicht geht. Ja, das ist ihr Ding. Schließlich bedarf es eines Alleinstellungmerkmals, sagt Michelle, wenn man sich in der Musikwelt durchsetzen, wenn man mit seiner Musik so viel Geld verdienen möchte, dass man davon leben kann.

Dass Michelle sich viel mit ihrer Person und ihrer Zukunft auseinandersetzt, merkt man schnell. Ihre Stimme ist ruhig, wenn sie erzählt. Ihre Worte sind überlegt und gewählt. Sie schaut auf von ihrer Gitarre, hebt die Hand zum Mund und zieht langsam, fast bedächtig an ihrer selbstgedrehten Zigarette. Wohin sie will im Leben, das wusste Michelle nicht immer. Und manchmal, sagt sie, weiß sie das immer noch nicht. Im Leben habe man ja immer Pläne, Ziele und Träume – und dann kommt doch alles anders.
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Ein Weg, mehrere Abzweigungen

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Szenenwechsel. Ein anderer Tag. Eine andere Location. Wir sitzen im Jugendkulturzentrum Cadillac. Regen prasselt gegen die Scheiben. Wind treibt vereinzelte Blätter im Innenhof vor sich her. Bunte LED-Leuchten tauchen Wände und Bar in schummriges Licht. Zwei Jugendliche sitzen auf dem schwarzen Ledersofa und zupfen Gitarrensaiten. Hier beginnt für viele lokale Musiker vieles – erste Auftritte, erste Kontakte, erstes Release-Konzert.

Das von Michelle war im Juni dieses Jahres. Drei Monate bereitet sie sich auf den Auftritt vor, bei dem sie ihr Debütalbum „Wissen wohin“ dem Publikum vorstellt. Ein textliches Potpourri aus Hoffnung, Ängsten und Anderssein.

Anders war Michelle schon immer. Mit neun Jahren beschäftigt sie sich mit dem Rassenkonflikt, schaut regelmäßig Nachrichten, saugt alles auf, was in der Welt passiert. Ihren Eltern gefällt das nicht immer. Aber was einem Kind sagen, das sich auch der Probleme der Erwachsenen annimmt? „Meine Eltern sind sehr junge Eltern“, erzählt Michelle. „Ich habe schon früh Verantwortung übernommen und mich gekümmert, wenn es ihnen nicht gut ging.“

Der Umbruch

Mit 15 Jahren wird das Anderssein, die Neugierde auf das Leben allerdings zum Problem. Michelle entdeckt Techno für sich – und Goa-Partys. Drogen kommen ins Spiel. Die Schule wird zur Nebensache und irgendwie auch alles andere. Sogar ihre Musik. Pläne, Ziele und Träume, die sie vorher hatte, verblassen mit jedem Zug und mit jedem Schluck.

Momente, in denen man hätte aufwachen müssen, gab es viele, sagt Michelle heute. Zum Beispiel, wenn aus dem Bekanntenkreis mal wieder jemand in die Karl-Jaspers-Klinik, die Psychiatrie in Wehnen, kommt. Die Schicksale berühren durchaus, nehmen einen mit, aber es ist ja nicht das eigene.

Doch dann ist da dieser eine Abend, an dem vieles zusammenkommt. Gras. Codein. Mephedron. Zusammenbruch. Kammerflimmern.

Dann folgt auch noch die Trennung vom ersten Freund. Drei intensive Jahre sind plötzlich vorbei. Herzrasen. Termin beim Kardiologen. Der setzt auf Langzeit-EKG. Michelle auf Vergessen. Erstmal klar kommen. Erstmal neu würfeln, Leben neu ausrichten – wer gehört überhaupt zu meinen Freunden? Wen habe ich noch?

Ein Umbruch, in dem Michelle wieder zur Musik findet. Sie spielt Gitarre, schreibt Texte, arbeitet im Cadillac, zieht sich zurück, trifft sich nicht mehr mit Freunden. Fast ein Jahr lang. Eine verdammt einsame Zeit, erinnert sie sich. Doch eine Zeit, die sie braucht, um wieder zu lernen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Seitdem kommt sie allein klar. Nur ab und zu wird die Mama dann doch mal um Rat gefragt. „Für alles andere habe ich meine Gitarre.“

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Das Erlebte verarbeitet Michelle in ihren Texten. In drei Minuten komprimierte Lebenserfahrungen. Manche von ihnen kann sie an manchen Tagen nicht spielen. Dann bricht ihre Stimme und sie kämpft mit den Tränen. So wie auf dem Release-Konzert im Cadillac. Ein Erfolg war der Auftritt dennoch, weil Michelle ihr Anderssein, ihre Gefühle und Ängste so ehrlich  thematisiert, dass sie andere nicht nur berühren, sondern ihnen auch helfen. 

„Ich will meinen Erfahrungen einen Sinn geben, der über mich hinauswächst. Zu sagen: Ich bin durch sie stärker geworden, das reicht mir nicht. Ich will sagen können, durch meine Erfahrungen sind auch andere Menschen stärker geworden. Dafür mache ich Musik und dafür stehe ich auf der Bühne. Auch, wenn es mir manchmal schwer fällt, mein Innerstes so öffentlich zu machen.“



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